Radikal subjektiv: So geht Deep-POV
- Vera Zischke
- vor 1 Tag
- 4 Min. Lesezeit
Träumen wir nicht alle davon, die Grenzen zwischen Buch- und realer Welt aufzulösen? Wollen wir beim Lesen nicht alle abtauchen und vergessen, dass die Menschen, um die es geht, rein fiktiv sind? So erschaffst du ein intensives Leseerlebnis.

Kennst du diese Bücher, an deren Ende du das Gefühl hast, nur mühsam wieder in deiner eigenen Welt anzukommen? Bücher, die dir vorkommen wie begehbare Landschaften, und Figuren, die so real erscheinen, dass du kaum glauben kannst, dass sie nur zwischen zwei Buchdeckeln existieren.
Der Kaninchenloch-Effekt
Deep-POV nennt man die Kunst, so tief in die Wahrnehmung einer Figur einzusteigen, dass ihre Weltsicht zu unserer eigenen wird. Eine größere Nähe lässt sich zu einer Figur nicht herstellen. Im Idealfall entsteht dadurch der Kaninchenloch-Effekt: Leser:innen fallen kopfüber hinein in die fremde Welt und lassen sich zu hundert Prozent auf die Geschichte ein.
Technisch heißt das: Als Autor:innen beschreiben wir die Welt ausschließlich so, wie die Fokus-Figur sie sieht. Es gibt keinen übergeordneten Erzähler, keine (ironische) Distanz. Deine Pov kann ein zuverlässiger Erzähler sein oder einer, dem Leser:innen nicht trauen können. Sie kann Dinge falsch interpertieren und nur die halbe Wahrheit kennen. Und Leser:innen kommen erst darauf, wenn es die Figur selbst realisiert.
Achtung: Es besteht Verwechslungsgefahr
Die Deep-Pov lässt eine Story dermaßen authentisch erscheinen, dass Lesende häufig vergessen, dass überhaupt jemand diese Geschichte verfasst hat. Sie muss autobiografisch sein! Oder nicht?
Spoiler: Das ist natürlich Quatsch. Deep-Pov ist ein Stilmittel, das viel Präzision verlangt, vor allem aber die Fähigkeit, sich tief in andere Menschen hineinzuversetzen. Hier kommen drei Beispiele, die zeigen, wie enorm unterschiedlich Deep-Pov sein kann:
Beispiel 1: Vatermal, Necati Öziri (claassen)
Fast so schwierig, wie »Papa« zu sagen, ist es für mich hier, »ich« zu sagen. »Papa« klingt ausgesprochen falsch, »ich« löst schon vorher ein Stocken, einen Muskelkrampf in der Zunge aus. Ich werde es trotzdem tun. Auch wenn dieses »ich« immer ein anderer war. Ich werde von mir erzählen, Metin, aber ich werde permanent lügen. Nichts stimmt, und doch ist jedes Wort wahr.
Beispiel 2: Durst ist schlimmer als Heimweh, Lucy Fricke (rororo)
Nichts, absolut nichts wollte Judith erzählen. Sie wollte die Tasse in der Hand zerdrücken und mit den Scherben die Vorhänge einritzen, sie wollte ihre vermatschten Schuhe wieder anziehen und damit über den weißen Teppich schlurfen, sie wollte eine Bierflasche mit den Zähnen öffnen und »Prost, Beate!« rufen, sie wollte auf der Stelle verschwinden.
Beispiel 3: Ich möchte Wein trinken und auf das Ende der Welt warten, Slata Roschal, (claassen)
Es ist ja alles gut, mit den Kindern, mit mir, mit mir und dir ja auch, eigentlich, es ist nur ständig dieses Eigentlich, ich spüre, dass da etwas verkehrt ist und das Äußere nicht das Innere ist, mir und den Kindern und mir und dir geht es gut, aber ich frage mich jeden Morgen, warum ich aufstehen soll.
Was nehmen wir daraus mit? Deep-POV bedeutet, wie durch einen Tunnel auf die Geschichte zu blicken. Wir beschreiben ausschließlich, was die Fokus-Figur wahrnimmt und wie sie zur Welt steht.
Die Protagonistin in Ich möchte Wein trinken ist zum ersten Mal seit der Geburt ihres Kindes allein in einem Hotelzimmer und kommt ins Grübeln, bis nicht mehr klar ist, ob sie aus diesem Hotel wieder zu ihrer Familie zurückkehren wird.
Lucy Frickes Protagonistin Judith wuchs mit Gewalt und Missbrauch auf und zieht nun in eine Jugendhilfeeinrichtung. Sie ist in einer permanenten Kampfhaltung.
Der Erzähler in Necati Öziris Vatermal ist dabei, gegenüber seinem abwesenden Vater eine Lebensbeichte abzulegen, ohne es ihm zu leicht machen zu wollen. Sein Erzählen folgt keiner Ordnung. Was stimmt und was nicht, lässt er offen.
Dabei ist es nicht entscheidend, ob wir in der Ich-Perspektive erzählen oder in der dritten Person. Es kann zudem mehrere Fokus-Figuren geben, in dessen Deep POV du schlüpfst.
Aber wie genau schreibt man Deep-POV?
formell: verzichte auf alles, was einen Erzähler sichtbar macht, z.B. Zusätze wie sie wusste längst, dass oder sie fragt sich, ob oder auch er fühlte, dass
Show don't tell: Ja, da ist es wieder. Geh nah an die Figur heran und beschreibe ungefiltert, was auf sie einprasselt. Wir beschreiben nicht, dass jemand zum Fenster raussieht, sondern was er dort sieht. Das heißt nicht, dass Tell verboten ist. Erinnerungen etwa eignen sich wunderbar als erzählerische Elemente.
Trau dich, mit Tempo, Satzbau und Struktur zu spielen, um deiner Figur gerecht zu werden. Wenn deine Figur zehn Jahre alt ist, muss die Geschichte auch in der Sprache und dem Horizont eines Zehnjährigen verfasst sein.
Inhaltlich: Beschreibe nichts, was die Figur in ihren Gedanken nicht aufgreifen würde. Wer in seine vertraute Wohnung kommt, beschreibt sie nicht - wozu auch? Wenn du dennoch deinen Leser:innen eine Beschreibung liefern möchtest, mache es geschickt. Beispiel: Es kommt jemand zu Besuch und die Figur mustert skeptisch ihre Einrichtung.
Mache dir bewusst, was deine Figur weiß, was sie gehört hat und was sie nicht wissen kann
Und jetzt kommt der Disclaimer: Deep-POV ist intensiv und sowohl für Schreibende als auch für Lesende Geschmackssache . Es ist ein Stilmittel, eine besonders dichte Art zu erzählen, die manche Autor:innen ganz automatisch suchen, um ihren Figuren möglichst nahe zu sein und sich selbst kopfüber in die Geschichte zu stürzen.
Deep-Pov kann aber auch etwas sein, was man in der Nachbearbeitung schärft, indem man passive Formulierungen in aktive umwandelt, Tell in Show umformuliert und noch einmal ganz genau überprüft: Beschreibe ich diese Situation gerade wirklich aus Sicht meiner Figur?
Dir ist das alles zu intensiv? Wie wäre es dann mit einer kleinen Schreibübung? Versuch's mal als Prolog oder picke dir eine Szene raus und schreibe diese gezielt im Tunnelblick deiner Figur.
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